Die Kinderärzte Benedict-Douglas Sannwaldt (l.) und Till Rausch vom Wilhelmsstift stellen ihr neues Buch vor.
Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services
Zwei Kinderchirurgen aus Hamburg wollen Eltern mit ihrem Buch „Verknackst, verschluckt, verbrannt“ eine Orientierungshilfe geben.
Eine Erbse tief in der Nase, ein verknackstes Bein oder gar ein Baby, das vom Wickeltisch gefallen ist: Müssen wir damit in die Notaufnahme? Das fragen sich Eltern häufig, wenn ihren Kindern kleine oder größere Katastrophen zustoßen. Die beiden Kinderchirurgen Till Rausch und Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt behandeln solche und andere Fälle täglich im Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt.
Gemeinsam haben sie nun ein Buch geschrieben mit dem Titel „Verknackst, verschluckt, verbrannt“, das eine Orientierungshilfe gibt bei der Frage, wie dramatisch die Lage nach einem Unfall oder bei einer Verletzung wirklich ist – und ob Eltern ihre Kinder in die Notaufnahme bringen sollten oder nicht. Sie erklären in ihrem Buch zudem leicht verständlich, was Eltern als Erste-Hilfe-Maßnahmen tun können, um ihr Kind bestmöglich zu versorgen.
Die Notaufnahmen haben sich in den vergangenen Jahren rasant gefüllt, das erleben Facharzt Sannwaldt und Assistenzarzt Rausch auch am Wilhelmstift. „Mittlerweile gehen die Patientenzahlen so durch die Decke, dass ab 8 Uhr Rambazamba in der Notaufnahme ist“, sagt Rausch. „Wenn die erste große Pause in der Schule vorbei ist, kommen die Kinder mit Verletzungen vom Schulhof, wo sie von der Tischtennisplatte gefallen oder beim Fußballspielen umgeknickt sind. Kitakinder werden mit Platzwunden gebracht, wenn gerade Tobezeit war.“
Ein beträchtlicher Teil der Arbeit in der Notaufnahme besteht heute darin, besorgte Eltern zu beruhigen, Aufklärung zu leisten und kleinere Wehwehchen zu versorgen, die sehr häufig gar kein Fall für die Notaufnahme sind. Dafür entlädt sich der Frust der Wartenden immer öfter beim Pflegepersonal. Eine offizielle Statistik gibt es nicht, aber Kinderchirurg Sannwaldt schätzt, dass nur gut 50 Prozent der kleinen Patientinnen und Patienten wirklich so schwer verletzt oder erkrankt sind, dass sie ein Notfall sind. „Es gibt Verletzungen, die sollten behandelt werden – allerdings nicht unbedingt in der Notaufnahme. Und dann sind da Fälle, bei denen eigentlich gar kein Arzt oder Ärztin hinzugezogen werden müsste“, so Sannwaldt.
Rausch und Sannwaldt haben auch eine Liste mit den häufigsten Verletzungen erstellt. Ganz oben bei den Top Ten: Knochenbrüche beim Trampolinspringen, der Transport von Kindern auf dem Fahrradgepäckträger, Verbrühungen, Schnittverletzungen durch Glastüren, Gegenstände verschluckt, Vergiftungen. Stürze durch offene Fenster und Türen oder von Hochbetten und schließlich die Ertrinkungsgefahr in Pools, Gartenteichen oder Badewannen. Eine Auswahl:
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Das Baby greift in den kochend heißen Brei. „Als Erstes ist es wichtig, dass die Eltern Ruhe und einen kühlen Kopf bewahren, damit sie nicht den Überblick verlieren“, sagt Sannwaldt. „Sie sind verantwortlich, für das Kind ist es wichtig, dass sie zumindest äußerlich ruhig scheinen.“ Dann schnell die Kleidung ausziehen. Ist die verbrühte oder verbrannte Stelle nicht zu groß, sollte man sie kühlen, auch um das Nachbrennen im Gewebe zu mindern – und zwar mit lauwarmem oder leicht kühlem Wasser – nicht zu kalt!
„Wenn man das Passende zur Hand hat, sollte man den Bereich steril abdecken und gegebenenfalls ein Schmerzmittel geben, etwa Paracetamol“. Zur Orientierung: Die Handfläche eines Kindes ist etwa ein Prozent der Körperoberfläche. „Wenn die Verbrennung über ein oder zwei Prozent reicht, dann ist es ratsam, ein Krankenhaus aufzusuchen“, sagen die Mediziner. Kritische Regionen sind das Gesicht, die Hände und der Genitalbereich. „Nichts auf die Wunde legen oder streuen“, ergänzt Rausch. Sein Kollege und er haben schon die verrücktesten Dinge erlebt: Zahnpasta auf einer Brandwunde, Tomatenmark, Joghurt oder sogar Salz.
Ein Kleinkind steckt sich die Erbse zu tief in die Nase – Ähnliches kommt häufiger vor, als man denkt. „Wir haben schon alles gesehen: Erbsen, Popcorn, Murmeln, Bügelperlen, aufgeweichtes Brot oder Holzstücke in der Nase, die Liste ist endlos“, sagt Rausch. Ist der Fremdkörper von außen noch gut zu sehen und zu greifen, kann man versuchen, ihn zu Hause selbst herauszuziehen.
„Wenn er ganz tief drin steckt, sodass man ihn kaum oder gar nicht sieht, dann sollte man eher die Finger davon lassen, denn im Zweifelsfall schiebt man ihn nur weiter hinein“, sagt Rausch. Dann tagsüber einen Kinderarzt oder eine Hals-Nasen-Ohren-Praxis aufsuchen, ansonsten die Notaufnahme. Je kleiner die Gegenstände, desto größer das Risiko, dass sie durch den Schreck weiterwandern und eingeatmet werden. Das kann gefährlich werden.
Das ist eine Höhe, bei der es auf jeden Fall ratsam ist, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu fahren, sagt Sannwaldt. Etwas anderes ist es, wenn sie von einem niedrigen Sofa rollen und auf einen dicken Teppich fallen. Eltern sollten das Kind abtasten, ob es zu einer Schwellung kommt. Kopfverletzungen sehen die Mediziner in der Notaufnahme häufig.
„Ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades, also eine Gehirnerschütterung, mit Bewusstlosigkeit und Erbrechen, Wesensveränderungen oder sehr starken und zunehmenden Kopfschmerzen sind Gründe, einen Kinderarzt oder eine Klinik aufzusuchen. Rausch: „Auch wenn Kinder spucken, ist das noch kein Grund zur Panik. Etwa 98 Prozent der Gehirnerschütterungen, die wir aufnehmen, sind völlig komplikationslos. Die Kinder werden 24 Stunden bei uns beobachtet, dann geht es wieder nach Hause.“
„Wir sehen wirklich ganz wüste Trampolinverletzungen bei uns, von Knöchelfrakturen über Armbrüche bis zu Schädel-Hirn-Traumata“, berichtet Rausch. „Ich will es mal so sagen: Gäbe es in Hamburg nicht Trampolinparks und -häuser, wäre unsere Notaufnahme deutlich leerer. Wir wollen Kinder nicht vom Trampolinspringen abhalten, aber die Regeln zur Benutzung wurden nicht ohne Grund aufgestellt.“
Zu zweit auf einem Trampolin zu springen geht gar nicht. „Die Kräfte, die sich auf einem Trampolin entfalten, sind nicht zu unterschätzen“, sagt Rausch. „Wenn ein Kind hineinspringt, während ein anderes gerade unten ist, können Federkräfte zu Brüchen führen, die nicht einfach nur mit einem Gips zu behandeln sind.“ Häufig müssten diese Brüche operiert werden, manchmal sind auch Nerven in Mitleidenschaft gezogen.
In der Notaufnahme werden täglich Wunden aller Größen und Formen präsentiert. „Bei Schürfwunden ist nur die oberste Hautschicht verletzt, das ist in der Regel ungefährlich und kann zu Hause mit klarem Wasser abgespült, desinfiziert und mit einem Schutzverband abgedeckt werden“, sagt Rausch. Sind Schürfwunden sehr tief oder enthalten Fremdkörper wie etwa Steinchen, kann man sie ärztlich versorgen lassen. Bei Stichverletzungen, gerade an der Hand oder dem Unterarm, ist das Risiko größer, dass wichtige Strukturen in der Tiefe verletzt sind.
Wenn die Wunde blutet, sollte ein steriler Verband angelegt werden. Bei starken oder hartnäckigen Blutungen kann ein Druckverband helfen. Eine Platzwunde muss noch kein Notfall sein, sagt Rausch. Er hat einen Tipp für die ganz Versierten: Nasentropfen auf die Wunde tropfen, das macht die Blutgefäße enger. Eine offene, stark blutende Wunde muss ärztlich versorgt werden, insbesondere wenn das gelbe Fettgewebe unter der Haut sichtbar wird.
„Das ist eine der häufigsten Verletzungen bei den Kindern“, sagt Sannwaldt. Aber: „So schnell stirbt an einer Fingerverletzung niemand.“ Häufig ist der Nagel verletzt, kann aus dem Nagelbett abgelöst werden. Da lohne es sich, ein Röntgenbild zu machen, um zu klären, ob auch der Knochen verletzt ist.
Manchmal müsse die Wunde genäht werden. „Wenn der Finger gequetscht ist und nicht schief oder stark angeschwollen ist, kann man warten, ob es am nächsten Tag besser wird. Dann ist es unwahrscheinlich, dass etwas Ernstes dahintersteckt. Wenn die Schmerzen zwei, drei oder vier Tage anhalten, kann man immer noch ein Röntgenbild machen, da hat man nichts verloren.“
Fieber an sich ist noch kein Alarmzeichen – es muss nichts Schlimmes dahinterstecken und umgekehrt gibt es schwerwiegende Erkrankungen, die ohne Fieber abgehen. Sannwaldts Faustregel: „Solange Kinder noch gut trinken, essen und einigermaßen bei sich sind, kann man ruhig drei Tage abwarten.“ Eine Ausnahme seien Säuglinge. Bei ihnen sollte man ab einer Temperatur von etwa 38,5 Grad zügig ärztliche Hilfe aufsuchen und die Ursache abklären lassen, weil sie noch kein so reifes Immunsystem haben.
In Haushalten mit kleineren Kindern gehören Steckdosen gesichert. Was, wenn das trotzdem nicht der Fall ist, und ein Kind in die Steckdose fasst? „Wenn ein Kind einen Stromschlag bekommen hat, ist es ratsam, die Herzfunktionen ärztlich überprüfen und ein EKG schreiben zu lassen und die Kinder eine Weile zu überwachen, um festzustellen, ob Herzrhythmusstörungen auftreten. Bei Stromunfällen können auch Verbrennungen an der Eintrittsstelle entstehen“, sagt Sannwaldt.
Verschluckte Gegenstände sind ein häufiger Grund von Eltern, in die Notaufnahme zu kommen. Eine Gefahr besteht, wenn die Gegenstände in der Luftröhre stecken bleiben. Bei Luftnot muss umgehend der Rettungsdienst verständigt werden. Mit dem Heimlich-Handgriff, bei dem der Betroffene mit beiden Armen von hinten am Oberbauch umfasst wird und dann mit einen ruckartigen Stoß in Richtung Zwergfell, kann man selbst helfen (aber nicht bei Kindern unter einem Jahr). Auch in der Speiseröhre, der engsten Stelle im Magen-Darm-Trakt, haben Fremdkörper nichts zu suchen.
Das ist aber meist weniger gefährlich. „Eltern sollten Ruhe bewahren. Wenn die Kinder speicheln, husten oder spucken, dann sollte man zum Arzt gehen und ein Röntgenbild machen lassen“, sagt Sannwaldt. Klopfen kann helfen, dazu einen Trinkversuch machen, um zu schauen, ob die Flüssigkeit durchgeht. Wenn die Symptome nicht abklingen, sollte man zum Arzt gehen. Meist wird der Fremdkörper auf natürlichem Wege wieder ausgeschieden.
Die Mediziner haben schon Münzen, viele Murmeln, aber auch Schlüssel, Haarspangen und Nägel aus Speiseröhren entfernt. Batterien können richtig gefährlich werden, da sollte man auf jeden Fall vorstellig werden. Einen Magneten zu verschlucken ist weniger schlimm, aber wenn es zwei oder mehr sind, sollte man in die Notaufnahme gehen. Die Magneten versuchen im Körper sich den Weg zueinander zu bahnen und können dabei Gewebe stark verletzen.
Zum Kuriosesten, das Dr. Sannwaldt in der Notaufnahme erlebt hat, gehört die Behandlung einer Jugendlichen, die im Ferienlager mit dem Fuß umgeknickt war. Ein Betreuer hatte gehört, dass man ein Ei darauf tun solle – und hat dann ein frisch gebratenes Spiegelei auf den Knöchel gelegt. In die Notaufnahme kam das Mädchen nicht wegen des umgeknickten Fußes, sondern weil sie Verbrennungen hatte – und die taten ziemlich weh.
Oftmals ärgern sich Eltern über lange Wartezeit – aber sie sehen nicht, was hinter den Kulissen der Notaufnahme alles abläuft. „Wir haben unglaublich viel zu tun, es kommen ständig Rettungswagen, Notärzte und manchmal sogar Helikopter mit Verletzten. Wir müssen uns um die Stationen kümmern und auch noch operieren“, sagt Rausch.
In dem Buch listen sein Kollege und er auf, wie man sich in der Wartehalle auf keinen Fall verhalten sollte: Häufiger fragen, um schneller dranzukommen. Laut werden, um schneller dranzukommen. Übertreiben, um schneller dranzukommen. „Wir behandeln alle gleich, haben ein Triagesystem und gucken uns die Kinder an, wie krank sie eingeschätzt werden. An diese Reihenfolge müssen wir uns halten, daran ändert auch nichts, wenn man häufig nachfragt oder sogar die Kinder vorschickt“, so Rausch.
Das verletzte oder kranke Kind vorzuschicken geht dar nicht, findet er. „Man darf natürlich mal nachfragen, wenn es sehr lange dauert“, sagt Sannwaldt. „Aber wir erleben auch, dass Eltern richtig Stunk machen, und das ist nicht gerechtfertigt. Was man da an Diskussionen und niveaulosen Anschuldigungen erlebt, das ist schon bitter.“
Verknackst, verschluckt, verbrannt: Wie ihr euren Kids zu Hause helft – und wann ihr in die Klinik solltet. Junior Medien. 18,95 Euro
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